HOHES PENSUM, ABER MIT SPASS: Die Lern-Runde im Wohnzimmer, im Uhrzeigersinn: Birgit und ihr Mann Heinz-Theo, Serge, Yildiz und ihr Mann Sami sowie Ashref. kam es dazu? „Wir engagieren uns schon seit einigen Jahren bei ‚Gräfrath hilft‘, wobei es ursprünglich darum ging, Geflüchtete mit Kleidung und Hausrat zu versorgen“, erzählt die vielseitig aktive Pensionärin in spe. „Doch weil es auch großen Beratungsbedarf gab – insbesondere zu Anträgen und anderen behördlichen Angelegenheiten – haben wir gemeinsam mit anderen Ehrenamtlern das ‚Beratungsteam Solingen‘ gegründet. Unsere Sprechstunde findet jeden Mittwoch im ‚Fluchtpunkt‘ der AWO Solingen statt. Daher haben wir auch guten Kontakt zu den AWO- Mitarbeiter:innen, die dort tätig sind. Von ihnen kam die Anfrage, ob wir Förderunter- richt für einen geflüchteten Arzt organisieren könnten. Dieser Arzt war Sami! Theo und ich haben kurz überlegt und dann gesagt: ‚Das machen wir!‘“ Die Lernrunde am Esstisch des Ehepaars wuchs innerhalb weniger Monate: Nachei- nander kamen Serge, Samis Frau Yildiz und schließlich Ashref hinzu. Das Lernpensum ist gewaltig: Von Asphyxia bis Zervikobrachial- syndrom – tausende von Fachbegriffen müs- sen korrekt erklärt und zugeordnet werden, Gesprächssituationen mit Patient:innen, Arztkolleg:innen, Pflege- und Laborkräften geübt, Dokumentationen verfasst und Rück- fragen beantwortet werden. „Es ist viel Ar- beit“, bestätigt Birgit Lindlar-Kremer, „macht aber auch Spaß. Theo und ich schlüpfen in alle möglichen Rollen: Mal sind wir ängst- liche oder uneinsichtige Patienten, mal Kol- legen und Vorgesetzte oder auch mal eine Reinigungskraft, die im OP einen Ehering gefunden hat und den Besitzer ausfindig ma- chen will. Es gibt immer was zu lachen, wenn wir zusammen üben.“ Dass Sami nun als erster aus der Gruppe die gefürchtete Fach- sprache-Prüfung bestanden hat, bestärkt alle. Ashref bringt es auf den Punkt: „Diese Prü- fung auf Anhieb zu schaffen, ist für uns Ziel Nummer 1!" Gräfrath hilft e.V., mehr Info hier: *Hinweis der Redaktion: Zum Schutz der geflüchteten Menschen, über die in diesem Beitrag berichtet wird, werden lediglich ihre Vornamen genannt. Dabei ist Birgit Lindlar-Kremer, die vor einem halben Jahr die passive Phase ihrer Altersteil- zeit angetreten hat, keineswegs dagegen, Fachkräfte aus anderen Ländern zu akquirie- ren: „Es sollte nur denen, die schon hier sind, nicht so schwer gemacht werden“, verdeutli- cht sie ihr Anliegen. „Warum können geflüch- tete Menschen wie Sami und Yildiz nicht erst einmal in ihren Berufen niederschwellig be- schäftigt werden, so dass sie die Alltagspra- che und die Fachsprache on-the-job lernen? Mit jeder bestandenen Sprachprüfung und – falls erforderlich – zusätzlichen Fachprüfung könnte ihnen mehr Verantwortung übertra- gen werden, bis zur vollständigen Anerken- nung.“ Ein pragmatischer Vorschlag; ob die- ser von den Entscheidungsträgern aufgegrif- fen wird, ist allerdings fraglich. Dabei sitzen in der Lernrunde zwei weitere Mediziner – Serge* und Ashref* – die mit Unterstützung von Birgit Lindlar-Kremer im Ansatz bereits diesen Weg verfolgen, parallel zu den vorge- gebenen Kursen. Serge kam vor zwei Jahren mit einem Sprach- kurs-Visum nach Deutschland, um sich hier weiterzubilden. In seinem Heimatland, der Demokratischen Republik Kongo, hatte er be- reits 2020 sein Medizinstudium erfolgreich abgeschlossen und als Arzt auf der internis- tischen Station eines Krankenhauses gearbei- tet. „Meine Schwester lebt und arbeitet schon seit langem in Solingen“, erzählt er. „Als ich den Kongo verlassen musste, machte ich mich auf den Weg zu ihr.“ Vom Anfänger- Sprachkurs A1 hat sich Serge inzwischen weit hochgearbeitet und den Fortgeschrittenen- Kurs B2 erfolgreich abgeschlossen. Zudem macht er seit einigen Monaten am Klinikum Solingen eine Ausbildung zur Krankenpflege- Fachkraft. „Birgit hat mir bei der Bewerbung geholfen“, berichtet er voller Dankbarkeit. „Als Auszubildender kann ich meinen Le- bensunterhalt weitgehend selbst bestreiten, und ich gewinne noch mehr Sicherheit in der deutschen Sprache.“ Sein Ziel ist es, auch in Deutschland als Arzt zu arbeiten: „Ich überle- 14 ge, noch ein Facharzt-Studium in Geriatrie zu absolvieren“, umreißt er seine Pläne. „Dieses Fachgebiet ist sehr interessant – und es gibt viel zu wenige Fachärzte für die Behandlung älterer Menschen.“ Auch Ashref will so schnell wie möglich wie- der als Arzt im Krankenhaus tätig werden. In Tunesien geboren und aufgewachsen, war er zum Medizin-Studium in die Ukraine gezo- gen. Nachdem er 2018 sein Studium an der staatlichen Universität von Dnipro mit Best- noten abgeschlossen und anschließend zwei Jahre als Arzt im Praktikum gearbeitet hatte, belegte er erneut zwei medizinische Studien- gänge – diesmal mit international aner- kannten Abschlüssen. „Ich wollte mich wei- ter qualifizieren und meinen Beruf überall ausüben können“, nennt er seine Beweggrün- de. „Doch dann brach im Februar 2022 der Krieg aus. Zuerst habe ich mehrere Kranken- häuser aufgesucht und angeboten, ehrenamt- lich mitzuarbeiten. Das scheiterte, weil die Krankenhausverwaltungen den Einsatz von Ehrenamtlern nicht vorsahen. Ein paar Wo- chen später bin ich nach Deutschland ge- kommen.“ In Kürze beendet er den Deutsch- Intensivkurs B2, danach folgt auch für ihn der Endspurt zur Vorbereitung auf die Fach- spracheprüfung. Schon jetzt beherrscht Ashref die deutsche Sprache fast so gut wie seine Muttersprachen Arabisch und Franzö- sisch. Auch seine Kenntnisse in Ukrainisch, Russisch und Englisch sind exzellent. Damit ist er der perfekte Dolmetscher für die vielen Geflüchteten aus der Ukraine, die der Verein „Gräfrath hilft e.V.“ betreut. Ashref investiert viel Zeit und Arbeit in dieses Ehrenamt, bei dem er seine Sprachkenntnisse anwendet und trainiert. Er ist überzeugt: „Die Welt braucht Ehrenamtler!“ Das sehen Birgit Lindlar-Kremer und ihr Mann Heinz-Theo Schürholz genauso – und deshalb ist ihr Wohnzimmer mehrmals pro Woche der Klassenraum für den fachsprach- lichen Deutsch-Förderunterricht. Aber wie